Interview „Business Talk am Kudamm“ geführt von Dr. Manuela Diehl am 20.1.2021
Osteopathie ist eine alternative Heilmethode, die auf die Selbstheilungskräfte des Körpers setzt. Auf welchen Grundlagen basiert die Osteopathie?
Birgit Keller: Die osteopathische Medizin wird mit den Händen, also rein manuell, ausgeführt, ohne dabei auf Medikamente oder medizintechnische Hilfsmittel zurückzugreifen.
Die Grundlage der Osteopathie beruht im Kern auf der Bedeutung der arteriellen Versorgung des menschlichen Körpers.
Die Nährstoffversorgung aller Gewebe, bis in die kleinsten Zellen und Fasern (Faszien) des Nerven-, Skelett- und Organsystems hinein, ist für die Erhaltung der Gesundheit und der Heilung zuständig. Darauf beruht die sog. Selbstheilungskraft des Organismus.
Eine Grundvoraussetzung dafür ist eine intakte Zirkulation des Blutes und des Lymphsystems. Hiervon ist der Transport der Nährstoffe, wie beispielsweise Hormontransport in die Gewebe, Versorgung von Knochen und Gelenken etc. abhängig.
Natürlich ist auch der Abtransport der verbrauchten Stoffwechselprodukte von Bedeutung. Man könnte sagen: Der Körper braucht auch eine „Müllabfuhr“, um gesund zu sein.
Im Laufe des Lebens gibt es schon mal größere oder kleinere körperliche Verletzungen oder Unfälle. Manchmal sind es kaum merkliche äußere Einflüsse oder innere Störungen, die unseren Organismus bis hin zum Nervensystem daraufhin veranlassen können, Anpassungsmechanismen zu entwickeln, um bestmöglich zu funktionieren.
Die Reaktion des Nervensystems auf Verletzungen, Operationen oder auch innere Störeinflüsse können den Körper in ein „Ungleichgewicht“ hineinführen und sog. „Blockaden“, Bewegungseinschränkungen und Gewebeverdichtungen (z. B. Narben) hervorrufen. Diese Funktionsstörungen (Dysfunktionen) können für Zirkulations- und/oder Kommunikationsstörungen verantwortlich sein.
Alle Systeme, incl. des Nervensystems, auch deren mentales System und Kontrollsysteme für Bewegungs- und Handlungssteuerung, sind von ausreichend guter Durchblutung, Nährstoffzufuhr und Informationen abhängig, um Funktionen ungestört, unbehindert ausführen oder anpassen zu können. Dies alles und noch vieles mehr könnten u. a. Ursachen für eingeschränkte Selbstheilungskräfte, Schmerzen und sogar Krankheiten sein.
Osteopath*innen arbeiten teils ähnlich wie Chiropraktiker*innen. Worin unterscheiden sich die Behandlungsansätze?
Birgit Keller: Eine Osteopath*in sucht nach den Ursachen der Symptome, die einem Problem oder Schmerz zu Grunde liegen können und ist bemüht, sog. Dysfunktionen zu beheben. Durch die ausführliche Anamnese und anschließende komplette körperliche Untersuchung werden alle, die mit Störungen oder Schmerzen verbundenen Strukturen und Funktionen bedacht und ggf. behandelt. Konkret sucht eine Osteopath*in sowohl nach Einschränkungen der Beweglichkeit als auch nach Verdichtungen, fehlender Dynamik und Anpassungsproblemen im Organismus und behandelt diese mit unterschiedlichen Techniken. Zu denen zählt auch, falls indiziert, eine Manipulation von Blockaden in Wirbel- und Extremitätengelenken.
Der Unterschied zur Chiropraktik liegt meines Erachtens nach in der sensiblen Fähigkeit einer Osteopath*in nicht nur direkt, sondern darüber hinaus auch indirekt, mit Funktionen und Strukturen des parietalen Systems (Stützsystem des Körpers), viszeralen (Organen System) und craniosacralen System (Schädel und Sacrum) incl. des autonomen und vegetativen Nervensystems sowie des Liquor Flusses zu arbeiten. Dies geschieht zum Teil in einem sehr sanften, entspannenden therapeutischen Prozess mit dem Bewusstsein, dass das Nervensystem des Menschen selbst in der Lage ist, nach einer wiedergewonnenen Fähigkeit zur Dynamik und Mobilität, die Selbstheilungskraft zu aktivieren. Deshalb werden osteopathische Behandlungen auch meist, es sei denn es gibt ein akutes Problem oder Trauma, in größeren Abständen von teils vier- bis sechs Wochen durchgeführt.
Viele Krankenkassen übernehmen osteopathische Behandlungskosten. Ist die Branche auf dem Weg aus der Nische in den Mainstream?
Birgit Keller: Osteopathie ist aus meiner langjährigen therapeutischen Sicht und Selbsterfahrung heraus betrachtet, ein menschlich notwendiger Ansatz zur Prävention und Therapie in der Medizin.
Vergleichsweise mit Frankreich und den USA, wo die Osteopathie schon lange im Gesundheitssystem implementiert ist, hat es im politischen Deutschland einen langen Atem gebraucht, die Behandlungskosten von einigen Krankenkassen anerkennen zu lassen. Diese politische Arbeit, haben wir unter anderen dem größten „Verband der Osteopathen Deutschlands e.V. (VOD)“ zu verdanken.
Wichtiger als im „Mainstream“ zu schwimmen, finde ich die Berufsanerkennung auf Bundesebene, da diese rechtlich gesehen zurzeit noch nicht existiert.
Welche Ausbildung müssen Osteopath*innen haben, um eine Praxis eröffnen zu dürfen?
Birgit Keller: Die Mindestvoraussetzungen, um eine osteopathische Praxis eröffnen zu können, ist eine vierjährige berufsbegleitende Ausbildung, die mindestens 1.350 Unterrichtsstunden umfasst. Darüber hinaus ist die Erlangung der Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde erforderlich.
Worin unterscheiden sich die Ausbildung und das Studium der Osteopathie?
Birgit Keller: In Deutschland erfolgt die Ausbildung zur Osteopath*in vorrangig an privaten Osteopathie-Schulen. Die meisten dieser Schulen bieten ihre Ausbildung berufsbegleitend an. Sie richtet sich an Ärzt*innen, Heilpraktiker*innen und Physiotherapeut*innen. Die berufsbegleitende Ausbildung beträgt mindestens vier Jahre und findet überwiegend in Wochenendseminaren statt. Insgesamt müssen die Schüler*innen mindestens 1.350 Unterrichtstunden absolvieren.
Vorwiegend Abiturient*innen nutzen die Ausbildung an Vollzeitschulen. Vollzeitabsolvent*innen erlernen die Osteopathie innerhalb von fünf Jahren in mehr als 5000 Unterrichtseinheiten. Die Vollzeitausbildung ist die derzeit fundierteste osteopathische Ausbildung.
Der Unterricht ist aufgeteilt in Theorie und Praxis und umfasst medizinische Grundlagenfächer wie Anatomie und Physiologie sowie das Erlernen der verschiedenen osteopathischen Techniken. Eine Abschlussarbeit und -prüfung beenden die Ausbildung.
Die mindestens vierjährige Ausbildung ist notwendig, um einerseits die vielen Bereiche der Osteopathie als eigenständige und wirksame Form der Medizin zu erlernen und andererseits die eigenen Hände zu feinfühligen Instrumenten zu schulen.
Der nach den Bologna-Kriterien anerkannten akademischen Bachelor-Abschluss in Osteopathie hat in erster Linie das Ziel, im europäischen Hochschulwesen einheitliche Studienabschlüsse zu schaffen. Dies ermöglicht es, Ostepath*innen den Weg in ein dreigliedriges, transparentes System aus Bachelor, Master und Promotion einzuschlagen, was das Berufsbild der Osteopath*innen durch Wissenschaft und Forschung weiter voranbringen kann.